Unser Kaiser- und Mariendom

Glaubenszentrum - Kulturerbe - Zukunfshoffnung

Von Prof. Dr. Bernd Schneidmüller


Rede im Dom zu Speyer am 05.07.2024, 19 Uhr
Festakt zum 25-jährigen Bestehen der Europäischen Stiftung
Kaiserdom zu Speyer


25 Jahre – das „silberne Jubiläum“ der Europäischen Stiftung Kaiserdom zu Speyer lenkt den Blick auf unseren Dom. Ihm gelten Förderung, Aufmerksamkeit und Zuneigung der Stiftung. Deshalb habe ich das erste Wort meines Vortragstitels bewusst gewählt: „Unser Kaiser- und Mariendom“. Diese Kathedrale ist Ort der Begegnung von Gott und Mensch. Sie ist seit einem
Jahrtausend und länger ein Erinnerungsort für mehr als dreitausend Generationen. Und sie bildet mit ihrem imposanten Bau und ihren hochragenden Türmen einen weithin sichtbaren Orientierungspunkt in der Rheinebene. Er lohnt sich unbedingt, auch im nächsten Jahrtausend intensiv für die Besonderheit und für die Erkennbarkeit dieser Kirche einzustehen. Dafür weist die Europäische Stiftung Kaiserdom zu Speyer seit 25 Jahren wichtige Wege. Und die Arbeit geht weiter, gemeinsam mit dem Dombauverein und der Hilfe unzähliger Menschen im Bistum Speyer wie in der ganzen Welt.

Was tut ein Historiker wie ich, der vor 25 Jahren noch nicht im Kuratorium dabei war und erst zwei Jahre später dazu kam? Er studiert die Akten zur Vorbereitung, Genehmigung und Gründung der Stiftung, und er liest die vielen Bücher zum
Dom. Aus den Protokollen des ausgehenden 20. Jahrhunderts spricht der Enthusiasmus der Gründergeneration, die auf einen breiten internationalen und überkonfessionellen Konsens in Kirche, Politik, Wirtschaft, Kultur, Gesellschaft aufbauen konnte. Der damalige Kuratoriumsvorsitzende Paul Wieandt (gest. 2007) fügte Aufbruchsstimmung und Spaß an der Aufgabe in treffende Worte. Auf der Homepage der Stiftung sehen Sie ein Foto, das den Ministerpräsidenten Kurt Beck und den Bundeskanzler a.D. Helmut Kohl (gest. 2017) bei der Überreichung der Gründungsurkunde zeigt, beide ein Lächeln im Gesicht.

Liest man die Protokolle der Gründungszeit genauer, entdeckt man neben dem unbedingten Willen zur Förderung und zur Großen Restaurierung des Doms auch manche Strategiedebatten: Brauchte es wirklich eine koordinierende Stiftung mit gebundenem Stiftungskapital, oder hätte man die Stiftungsgelder nicht lieber direkt in Baumaßnahmen investieren sollen? Wie wollte man das Verhältnis der neuen Stiftung zum florierenden Dombauverein definieren, der tausende von Menschen für ihren Dom mobilisierte? Das waren damals in der Tat wichtige Fragen. Nach 25 Jahren merken wir, wie gut sich die Dinge zum Nutzen des Speyerer Doms entwickelt haben. Sie hörten gerade von den Leistungen. Und sie können mehr auf der Homepage in der Chronik der Stiftung erfahren. Gewiss – es ist immer noch viel Luft nach oben, und es bleiben große Herausforderungen in der Zukunft. Aber das ist immer so, wenn Menschen etwas tun.

Eine Stiftung – das wissen wir aus der Kulturgeschichte der Menschheit – schafft verlässliche Dauer, über die Lebensspanne der Stiftenden hinweg. Stiftungen bewirken Gutes, und sie schaffen Gedächtnis. In den letzten Jahrzehnten realisierte ein internationales Team in Berlin ein großes Forschungsprojekt über fünftausend Jahre Stiftungen, von Mesopotamien bis zur US-amerikanischen Gegenwart. Er beschrieb die ganze Weltgeschichte als Stiftungsgeschichte. Dabei verknüpfen sich der uneigennützige Wille zur Fürsorge und die ganz eigennützige Hoffnung, nicht vergessen zu werden. In diesem breiten historischen Strom hat unsere Europäische Stiftung Kaiserdom zu Speyer ihren bescheidenen Platz. Sie folgt einem uralten Menschheitstraum.

Der Held der Stiftung ist der Dom. Seit einem Jahrtausend ist er uns in wechselnder Gestalt anvertraut. Und deshalb wollen wir ihn bestmöglich in die Zukunft begleiten. So steht der Kaiser- und Mariendom im Mittelpunkt meines Vortrags. In drei kurzen Schritten tritt er als Glaubenszentrum, als Kulturerbe und als Zukunftshoffnung vor uns.

1. Glaubenszentrum

Der Dom ist Ort der Verehrung Gottes und seiner Heiligen. Doch der Gott des Alten und des Neuen Testaments macht es den Gläubigen nicht leicht. Rigoros fordert er den Verzicht auf alle sichtbaren Gottesbilder:

„Du sollst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von
irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser
unter der Erde.“
(2 Mose 20,4).

Auch wenn die Bibel im Zweiten Gebot ein Bildnis von Gott verbietet, erzählt sie, wie sich Gott seinem Volk offenbarte. Als Mose Gott im brennenden Dornbusch begegnet, verbindet sich für ihn Gottes Nähe mit dessen Nicht–Erfahrbarkeit:

„Der Herr sagte: Komm nicht näher heran! Leg deine Schuhe ab; denn der
Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden. Dann fuhr er fort: Ich bin der Herr
deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs.
Da verhüllte Mose sein Gesicht; denn er fürchtete sich, Gott anzuschauen.“
(2 Mos 3,5–6).

Dagegen erzählt der Prophet Jesaja von seiner Vision Gottes:

„Im Todesjahr des Königs Usija sah ich den Herrn. Er saß auf einem hohen
und erhabenen Thron. Der Saum seines Gewandes füllte den Tempel aus.“
(Jes 6,1).

Bis heute bleibt der im Jahr 70 n. Chr. zerstörte Tempel von Jerusalem ein heiliger Gedächtnisort für die drei großen monotheistischen Religionen. An seiner Erinnerung und an der Hoffnung auf den Saum von Gottes Gewand im heiligen
Raum orientiert sich die christliche Architektur. Getrieben wurde sie von der Verheißung des Apostels Paulus an die Gemeinde als Gottes Hausgenossen:

„Ihr seid auf das Fundament der Apostel und Propheten gebaut; der Schlussstein
ist Jesus Christus selbst. Durch ihn wird der ganze Bau zusammengehalten und
ächst zu einem heiligen Tempel im Herrn. Durch ihn werdet auch ihr im Geist zu
einer Wohnung Gottes erbaut“
(Eph 2,20–22).

Der Ort mit dem brennenden Dornbusch in der Wüste, der Tempel in Jerusalem, erfüllt vom Saum des Gewandes Gottes – das waren heilige Orte. Auch wenn sie sich kein Bild machen durften, schufen sich Christinnen und Christen einen Abglanz oder eine Repräsentation solch heiliger Orte. In ihren Prozessionen imitierten sie die Wege Jesu Christi auf Erden, seinen Einzug in Jerusalem oder seinen Leidensweg nach Golgatha. An vielen Stätten der Christenheit – weit weg vom Heiligen Land – vertraute man auf den alttestamentlichen Zuspruch an Mose: „denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden.“

Auch unser Dom wurde zu einem heiligen Raum gebaut: ein Ort der Begegnung zwischen Gott und Mensch, eine Ahnung vom Himmel auf Erden. Die Architektur nutzte Zeichen und Symbole, um das göttliche Heilsgeschehen erfahrbar zu machen und die Welt des Neuen Testaments hierher an den Rhein zu holen. Zuvorderst vertrauten sich die mittelalterlichen Stifter der Fürsprache zweier Heiliger an: der heiligen Gottesmutter Maria und dem hl. Stephanus. Das waren die Hauptpatrone des Doms, der ihre Erinnerungsstücke birgt. Unter ihnen genießt das im Jahr 1930 aufgestellte Gnadenbild mit Gottesmutter und Jesuskind besondere Verehrung. Seit den ersten Nennungen im 7. und 8. Jahrhundert überstrahlte Maria ihren Mitpatron Stephanus, zuerst den Erzmärtyrer Stephanus des Neuen Testaments, dann den heiligen Märtyrerpapst
Stephan I. (gest. 257).

Mit Erbauung und Förderung des Doms setzten die Salierkaiser des 11. Jahrhunderts Zeichen ihrer ganz besonderen Marienverehrung. Deshalb ist der Dom zu Speyer ein Mariendom. Er bildet den nördlichen Abschluss der im Frühmittelalter gestifteten Kathedralkirchen am Rhein, von Chur über Konstanz, Basel und Straßburg bis Speyer. Sie alle tragen das Marienpatrozinium. Dagegen wechseln nördlich von Speyer die Hauptpatrone der Domkirchen: Petrus in Worms, Martin in Mainz, Petrus in Köln, wiederum Martin in Utrecht. Überreich schmückten die salischen Kaiser ihren Dombau mit der Übertragung von Reliquien aus dem Byzantinischen Reich wie aus Italien und mit weiteren kostbaren Gaben.

Gut zu wissen: In Speyer erfolgte die Namenserweiterung vom Mariendom zum Kaiser- und Mariendom erst im 19. Jahrhundert, nachdem das Heilige Römische Reich mit seinen Kaisern untergegangen war. Jetzt trat zur Verehrung der Jungfrau programmatisch die historische Erinnerung an die im Dom begrabenen Herrscherinnen und Herrscher. So mischten sich die Funktionen des Doms – als Gotteshaus und als Gedächtnisort deutscher Geschichte.

Freilich spielten die Herrschergräber seit dem Neubau des Doms im 11. Jahrhundert eine besondere Rolle im gottesdienstlichen Leben. Bis heute nimmt der Speyerer Klerus seine Verpflichtungen zur Memoria wahr, die ihm die kaiserlichen Stifter einst auftrugen. Die Kaisergräber sind indes keine Heiligengräber. Deshalb galt und gilt hier die kultische Verehrung nur den Heiligen des Neuen Testaments und der alten Kirche. Durch neuere Forschungen wissen wir mehr über das ausgeklügelte theologische Programm, das hier im Dom realisiert wurde. Ein liturgisches Handbuch des ausgehenden Mittelalters, der sogenannte Liber Ordinarius, überliefert uns die Gottesordnungen. In den alten Texten öffnen sich Fenster in eine teilweise verschüttete geistliche Vielfalt. Der Dom war damals in beständiger Bewegung. Liturgie gilt heute als Spezialwissenschaft. Es lohnt sich, dieses Wissen für uns Heutige zu übersetzen.

Rom als Haupt der lateinischen Christenheit bot der Liturgie das große Vorbild. Das galt auch für Speyer. Doch der Klerus wollte mehr als nur imitieren. Er machte die Gemeinschaft der Apostel und der Alten Kirche in beständigen Wieder-Inszenierungen erlebbar. So fügen sich bei genauer Betrachtung die vielen Altäre des Doms in eine wunderbare Ordnung. Das Zentrum des Chors bildete der Hauptaltar der Gottesmutter. Er war der Angelpunkt zweier Altarachsen, in denen das Weihnachtsfest und das Osterfest erlebbar wurden. Zu den Hauptaltären des Chors gehörten neben dem Marienaltar die Altäre des Evangelisten Johannes, des Erzmärtyrers Stephanus und der Altar des Heiligen Kreuzes vor der Kaisergrablege. Stephanus und Johannes sind die Patrone der auf das Weihnachtsfest folgenden Tage. Und in der Domkrypta standen acht Altäre zu Ehren der zwölf Jünger. Ihnen hatte Jesus Christus die künftige Mitherrschaft zugesagt (Lk 22,29 f.). So wurde im Speyerer Dombau das schon genannte Paulus-Wort lebendig: „Ihr seid auf das Fundament der Apostel und Propheten gebaut; der Schlussstein ist Jesus Christus selbst.“

Lässt man sich einmal auf dieses Programm ein, so entdeckt man den Dom neu. Die mittelalterlichen Planer holten sich nämlich die ferne Welt des Neuen Testaments in diese Kirche hinein. Die Kathedrale erwuchs zum lebendigen Zentrum des Glaubens. Lebendigkeit – das war das entscheidende Ziel: Leben mit den Heiligen, Vertrauen auf die Anwesenheit Jesu Christi, Erneuerung der christlichen Botschaft.

Menschen vergangener Jahrhunderte erzählen uns von ihrer Einbettung in diese christliche Heilsgeschichte. Für meinen Vortrag studierte ich die Ruhmesreden auf den Speyerer Dom, die vor 500 Jahren entstanden. Das ist auf halbem zeitlichem Weg zwischen dem Dombau des 11. Jahrhunderts und uns Heutigen im 21. Jahrhundert. Theodor Reysmann (gest. 1543/44), ein humanistischer Dichter aus Heidelberg, schrieb hymnische Verse, aus denen ich in deutscher Übersetzung zitiere:

„Darum erblickst du denn hier, einem Berg gleich, himmelanstrebend Hoch vor den andern erbaut, den Dom, aus geschichteten Felsen; Einen erstaunlichen Rumpf, sich gliedernd in ragende Türme, Sechs an der Zahl, ein wuchtig Gebäu, das sich birgt in den Wolken. Ihm vergleiche nur kühn die gepriesenen Wunder des Weltalls: Jenen geheiligten Bau der Ephesergöttin Diana, Ihm des ägyptischen Nils Pyramiden, die Mauern des Nimrod, Die dich getragen mit Kraft, o vermessener Turmbau zu Babel; Nenne getrost auch das Grabmal des Mausolus, zu welchem die Alten Staunten empor; ja versuchs dir Salomos Tempel zu malen: Hier in dem Speyrer vermagst du ihn besser und näher mit Augen Wundernd zu schauen; so hoch ist die Kunst, die den Prachtbau geschaffen!“

Und zur löblichen Beschreibung der Speyerer Domorgel entwirft Reysmann ein Bild vom tanzenden Dom, der vor 500 Jahren auf die Klänge der Orgel antwortet:

„Und als hätte der Dom, so massig und schwer auch sein Bau scheint,
Lust zu beginnen den Tanz nach solchen zierlichen Weisen so hallt
fröhlich den Klang zurück sein gewaltiger Prachtbau.“

Die berühmteste Preisung der Jungfrau Maria und ihres Speyerer Doms stammt von Jakob Wimpfeling (gest. 1528), Professor in Heidelberg und Domvikar in Speyer. Sein Gedicht beginnt mit den Versen:

„Himmlische Mutter Christi, ich bitte dich, stehe mir gütig bei, dass ich
den Speyerer Dom aufs beste preisen kann, jenen ehrwürdigen Dom,
so gewaltig, hochragend auf starken Pfeilern, herrlich, ein Kunstwerk,
jeglichen Lobes wert.“

Und am Ende steht Wimpfelings Bitte:

„Du große Mutter und Patronin unseres Gotteshauses
und einziges Heil dieser gefeierten Kirche,
mächtige Königin, du schützest mit Vollmacht dieses Haus,
das so willfährig dir Huldigungen darbringt.
Solange die leuchtende Sonne abends untergeht und morgens
aufgeht, wird dir, Jungfrau, hier das Salve gesungen,
hier, wo Bernhard einst dem vertrauten Gesang hinzugefügt hat:
O clemens, o pia, o dulcis, sei gegrüßt;
hier, wo so oft der Klerus mit Psalmen und Messopfer
dein Lob feiert und preist. Darum, selige Mutter, schütze auf immer
dieses Haus und verteidige, selige Jungfrau, deine Stätte.“

2. Kulturerbe

Solch hohe Worte waren keine bloßen Phrasen heimatverliebter Pfälzer. Der Dom zu Speyer stellt in seiner spirituellen Kraft auch ein kulturelles Erbe dar, das ihn weit über die vielen Kirchen seiner Umgebung hervorhebt. Seit Jahrhunderten würdigen die Menschen den herausragenden geistlichen und kunsthistorischen Rang dieser Kathedrale. Nach den schweren Zerstörungen des 17. Jahrhunderts im Pfälzer Erbfolgekrieg kannten sie glücklicherweise noch nicht die Maxime der modernen Denkmalpflege „Konservieren statt restaurieren“. Im 20. Jahrhundert lernten die Menschen, ganz bewusst mit Ruinen zu leben: Mahnmale an Krieg und Gewalt, Zeugnisse für menschliche Schreckenstaten. Doch die Speyerer Gläubigen brauchten keinen halben Dom, sondern ein funktionierendes Gotteshaus. So bauten sie ihre Kathedrale in jedem neuzeitlichen Jahrhundert neu auf und um, wieder und wieder, geleitet vom hohen Respekt gegenüber dem gewaltigen romanischen Bau des 11. und 12. Jahrhunderts. Wenn ich ausländische Gäste hierherführe, so lasse ich sie die Baunähte und Übergänge entdecken, die im Langhaus von vergangenen Brandkatastrophen künden. Der Dom lehrt einen das Sehen und Erkennen einer Vielfalt, die sich uns dann als wunderbare Einheit präsentiert. Hier verbindet sich ein Patchwork der Jahrhunderte zu einer Kohärenz, die Ehrfurcht erweckt.

Nach den weltweiten Katastrophen mit Krieg und Zerstörung realisierte sich im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts der Wunsch, das herausragende kulturelle Erbe der Menschheit zu dokumentieren und zu bewahren. Und trotzdem müssen wir jährlich aufs Neue erfahren, wie sehr das alles bedroht ist, von furchtbarer Zerstörungswut der Fundamentalisten, von gezielten oder hingenommenen Vernichtungen, von unserer Gedankenlosigkeit. 1978 etablierte die UNESCO ihre World Heritage List. Darin steht das herausragende kulturelle Erbe der ganzen Menschheit. Den Anfang bildeten
1978 zwölf Orte, darunter aus Deutschland der Aachener Dom als Grabeskirche Karls des Großen. Heute versammelt die Liste 1.199 Stätten in 167 Ländern. 48 Welterbestätten sind grenzüberschreitend. 933 Stätten gehören zum Weltkulturerbe, 227 zum Weltnaturerbe, 39 sind gemischt. Sehr früh, 1981, wurde der Dom zu Speyer in diese illustre Liste aufgenommen, zusammen mit Residenz und Hofgarten in Würzburg. Das war damals die zweite Aufnahme deutscher Stätten nach Aachen.

Die exklusive Liste entfachte einen internationalen Wettbewerb um Aufnahme. Er ist mittlerweile weltweit ausgeklügelt organisiert und verspricht neben dem bloßen Prestige erhebliche Standortvorteile in der Kompetition um Aufmerksamkeit und Besucherströme. Während die Erfolgreichen bisweilen über ‚Over-Tourism‘ klagen, knirschen die leer Ausgegangenen mit den Zähnen: Speyer ja, Heidelberg nein – das sorgte durchaus für Befindlichkeiten. Drohungen der UNESCO mit der Aberkennung des Welterbe-Status erzielen oft genug denkmalpflegerische Wirkung und bleiben keine leeren Worte.

Auf der World Heritage List findet sich der Aachener Dom unter der Referenznummer 3 und der Speyerer Dom unter der Referenznummer 168. Die jüngste deutsche Aufnahme von 2023, das jüdisch-mittelalterliche Erbe in Erfurt, trägt die Referenznummer 1.656. 2021 sorgte eine UNESCO-Entscheidung hier in Speyer für Jubel: Damals wurden die SchUM-Stätten in Speyer, Worms und Mainz in die Welterbeliste aufgenommen. In Speyer steht neben dem Dom das vormals herausragende Zentrum jüdischen Lebens und Bauens. Der doppelte Eintrag verhalf Speyer im deutschen Vergleich zu einem einzigartigen Rang.

Weil der Platz auf der Liste so begehrt ist, gestalten sich die Diskussionen um Kriterien und Aufnahmeentscheidungen intensiv. Der Anteil am weltweit anerkannten Kultur- und Naturerbe der Menschheit fällt nämlich national unterschiedlich aus. Von den 1.199 Welterbe-Stätten weltweit liegen 52 in Deutschland. Damit rangiert Deutschland – zusammen mit Frankreich – im internationalen Ranking auf Platz 3, hinter Italien und China, vor Spanien, Indien, Mexiko und den vielen anderen Staaten dieser Erde. Ist das kulturell gerecht? Oder deutet es lediglich auf organisatorische Geschicklichkeit und gezieltes Interesse hin? Beim Nachdenken gerät man schon einmal ins Grübeln.

Die UNESCO gibt auf ihrer Homepage Rechenschaft über die Aufnahmeentscheidungen. Der Speyerer Dom wird mit diesen Worten vorgestellt:

„Als größte romanische Kirche der Welt und Meilenstein in der Geschichte romanischer Architektur ist der Speyerer Dom ein Kulturerbe von außergewöhnlichem Wert. 1981 wurde er als Hauptwerk romanischer Baukunst in Deutschland in die Welterbeliste der UNESCO aufgenommen. [...] Der Dom nimmt aus historischer und architektonischer Sicht eine Vorreiterrolle in der Entwicklung der romanischen Architektur ein [...] und wird in Größe und Skulpturenreichtum durch keine nachfolgend in Deutschland erbaute romanische Kirche übertroffen. Zugleich ist das Bauwerk aufgrund der Wiederaufbaumaßnahmen nach dem Brand im 17.10 Jahrhundert von großer Bedeutung für die Entwicklung von restauratorischen Grundsätzen in Deutschland, Europa und der Welt.“

Entscheidend für die Auszeichnung war das zweite von insgesamt zehn Aufnahmekriterium. Es lautet:

„Angemeldete Güter sollten daher: (ii) für einen Zeitraum oder in einem Kulturgebiet der Erde einen bedeutenden Schnittpunkt menschlicher Werte in Bezug auf Entwicklung der Architektur oder Technik, der Großplastik, des Städtebaus oder der Landschaftsgestaltung aufzeigen.“ Ein bedeutender Schnittpunkt menschlicher Werte also!

Manchmal ist es hilfreich, sich von den Wertungen unserer Gegenwart zu lösen und sich auf die Andersartigkeit der Vergangenheit einzulassen. Blicken wir auf mittelalterliche Urteile, so katapultierte die Fürsorge der Salier das vormals bestenfalls mittelmäßige Speyer zum strahlenden Zentrum im Reich. Im 10. Jahrhunderts bezeichnete ein Briefschreiber den Bischofssitz am Rhein noch als vaccina, als Kuhstadt. 150 Jahre später gab ein normannischer Chronist Speyer den Ehrentitel einer metropolis Germaniae, einer Hauptstadt in Deutschland. Zwischen diesen beiden Zeugnissen lag das Jahrhundert der Salier.

Im ersten Drittel des 11. Jahrhunderts begann hier der Neubau des Doms. In zwei Bauphasen wuchs er zum imperialen Glanz empor, mit mehr als 130 Metern Länge die damals größte romanische Kathedrale in der lateinischen Christenheit. Das Zeichen kaiserlicher Macht entwickelte sich im 11. und 12. Jahrhundert zum einzigartigen Gedächtnisort und zur gemeinsamen Grablege der ganzen salischen Dynastie. Kaiser Heinrich IV. (gest. 1106) schrieb 1101 in einer Urkunde von „unserer speziellen heiligen Kirche von Speyer“. Sein eigenes Schicksal und das seiner Dynastie vertraute er der Gottesmutter als Schutzpatronin an. Sie galt ihm als sancta sanctorum, als „Heilige der Heiligen“, und als regina angelorum, als „Königin der Engel, die der Welt den Heiland gebar“.

Solche Worte erzählen uns von einer anderen Rangordnung als die Referenznummer 168 auf der heutigen Welterbeliste. Für die salischen Kaiser stand Speyer und eben nur Speyer ganz weit vorne. Und deshalb fanden sie in der Speyerer Kaisergruft bleibende Memoria. Dort, vor dem Altar des heiligen Kreuzes, hofften sie auf ihre Auferstehung.

3. Zukunftshoffnung

Auch nach tausend Jahren wird uns der Dom weiter in die Zukunft geleiten. Die Kathedrale ist kein Museum, sondern Ort der Begegnung Gottes mit den Menschen. Ihre Bedeutung gewinnt sie als heiliger Raum. Wir wissen nichts über die künftigen Generationen und die Formen ihrer Frömmigkeit. Aber wir ahnen etwas von der Notwendigkeit des tiefgreifenden Wandels, in dem allein das Gotteslob seine zentrale Rolle behalten wird.

Die Zusammensetzung der Gremien in der Europäischen Stiftung Kaiserdom zu Speyer zielte von Anfang an auf internationale Vielfalt wie auf die Verbindung von Konfessionen und Religionen. Wir wissen den Dom in den guten Händen seiner Geistlichkeit, doch die Erinnerung an ein ganzes Jahrtausend lehrt uns auch die Kraft des Wandels.

In einer früheren Rede an dieser Stelle hatte ich vom Wandel menschlicher Sehnsüchte gesprochen, die sich über die Jahrhunderte auf diese Kathedrale richteten. Wir sollten nicht vergessen, dass der Dom zu Speyer bei seinem 900.
Jubiläum im Jahr 1930 noch als Bollwerk des Deutschtums gegen Frankreich gefeiert wurde. Hier am Rhein wäre, so sagten es Frühere, ein Trutz-Cluny entstanden, imperiale Repräsentationsarchitektur als Ausdruck deutscher Weltgeltung. Die Zerstörung des Doms unter französischer Besatzung im 17. Jahrhundert befeuerte die deutsch-französische Feindschaft. Im Jahr 1930 musste das neue Gnadenbild des Doms mit Gottesmutter und Jesuskind auf seiner Reise von Bayern nach Speyer auf dem östlichen Rheinufer innehalten, bis die letzten französischen Besatzungstruppen aus der Pfalz abgezogen waren. Erst dann führte man die vermeintlich deutsche Madonna im Triumph über den Rhein und ließ sie Besitz von ihrem vermeintlich deutschen Dom nehmen. Das alles ist keine hundert Jahre her. Und wir wünschen es uns nicht zurück.

Mit der deutschen Katastrophe im Zweiten Weltkrieg brach dieser nationalistische Irrsinn zusammen. Deshalb dürfen wir den Vätern und Müttern der europäischen Einheit zutiefst für ihre Wegweisungen aus dem einstigen Völkerhass heraus12 dankbar sein. Die europäische Gemeinschaft bescherte uns über Jahrzehnte einen Frieden, den meine Generation als Glück erleben darf und den wir jetzt wieder bedroht sehen. Konrad Adenauer (gest. 1967) und Helmut Kohl begriffen den Dom als Bauwerk des christlichen Abendlands und führten immer wieder ausländische Staatsmänner und Staatsfrauen in diese Kathedrale. So erwuchs sie zum Symbol christlicher Verbundenheit über Völker und Kulturen hinweg. In einer ebenso globalisierten wie fragmentierten Welt lassen wir seither die historischen Rahmungen des christlichen Abendlands hinter uns, ohne sie zu vergessen. Der Dom wurde zum kulturellen Erbe der ganzen Menschheit. Als Gotteshaus führt er im christlichen Liebesgebot Menschen aus allen Kulturen und Nationen zusammen. Das ist die Zukunftshoffnung des Doms, der uns weiterhin
zur Ehrfurcht erzieht.

Wir müssen in diesen Jahren auch mit dem 1000. Jubiläum des Doms umgehen und fragen, was uns dieses Millennium heute bedeutet. Die spätmittelalterlichen Chroniken aus Speyer legten die Grundsteinlegung ins Jahr 1030. Das ist spätere Rückschau und bietet uns kein sicheres Jubiläumsdatum. Aber ganz falsch wiederum ist 1030 auch nicht, denn der Dom wuchs unter Konrad II. (reg. 1024– 1039) zum imperialen Gedächtnisort heran. So mag das Jahr 1030 als
orientierender Kompromiss dienen.

Bei der Lektüre der alten Texte stieß ich auf ein einprägsames Bild vom Großen und vom Kleinen in menschlichen Perspektiven. Theodor Reysmann entwarf es vor 500 Jahren in seinem Lobgedicht auf Speyer, als er auf den Domtürmen stand:

„Da ich so Umschau hielt von besagten Türmen des Doms aus,
Sah einen Menschen ich tief dort unten die Straße durchwandeln;
Schien mir kleiner von Wuchs als die Zwerge der lybischen Sage,
Schien mir nicht größer zu sein als Mücklein oder ein Käfer;
So steigt riesenhoch die Spitze des Baus in die Wolken.“

Die Verse sind lehrreich, weil sie uns unsere Relativität vor Augen führen: nicht größer als ein Mücklein oder ein Käfer. Dagegen steht bleibend der Dom. Solche Bescheidenheit ist eine Chance für vernünftiges Menschsein. Und am Ende komme ich noch einmal auf Jakob Wimpfeling zurück, der die Freigebigkeit der alten Stifter lobte und neue Freigebigkeit für die Zukunft ersehnte:

„Nicht ohne Grund hat sich die altväterliche Tugend diese Kirche erwählt,
der sie auch weiterhin freigebige Hände reichen möchte.
Und so darf ich wohl unbeschadet aussprechen:
Speyer gebührt die Blume höchster Frömmigkeit;
hier ist Glaubensgrund, hier der Lorbeer heiligmäßiger Geistlichkeit,
hier ist lebendig des heiligen Kults größte Ordnung.“

Freigebige Hände, im Latein des alten Humanisten heißen sie largifluae manus!
Freigebige Hände also – das ist der Wunsch der Europäischen Stiftung
Kaiserdom zu Speyer für unseren Dom.

Heute dürfen wir den 25. Stiftungsgeburtstag in dieser tausendjährigen Kathedrale feiern. Vor uns liegen Herausforderungen. Hilfreich für diese Wege sind die Worte des Vorsitzenden Paul Wieandt am Ende der Gründungssitzung 1999:

„Wenn es nicht gemeinsam so viel Spaß machen würde, dann kämen wir
nicht voran. Ich hoffe, dass wir uns den Spaß für die Zukunft erhalten.“

Dieser Wunsch von Paul Wieandt begleitet uns weiter in die Zukunft. Oder wie
sagt man es in der Pfalz: alla!

Kontakt: bernd.schneidmueller@zegk.uni-heidelberg.de

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